Trail-Paradies in den Pyrenäen

Dan Milner

 · 14.08.2019

Trail-Paradies in den PyrenäenFoto: Dan Milner
Trail-Paradies in den Pyrenäen
Kaum jemand kannte das Bergdorf Ainsa in den Pyrenäen. Dann kam die Enduro World Series und schleuderte Ainsa ins Rampenlicht der Mountain­biker. Warum? Schier endlose Trails und alle: eins a.
  Wenn ein Transfer so aussieht, wissen wir, dass die EWS-Stages weit hinter uns liegen. Rafa tut, was sein muss beim steilen Aufstieg zum Pico Comodoto (2631 m).Foto: Dan Milner Wenn ein Transfer so aussieht, wissen wir, dass die EWS-Stages weit hinter uns liegen. Rafa tut, was sein muss beim steilen Aufstieg zum Pico Comodoto (2631 m).

Emilio begutachtet meine wasserdichten Shorts. Seine Augen verengen sich dabei zu Schlitzen, wie bei einem dieser fiesen Raptor-Sauriern aus Jurassic Park kurz bevor sie angreifen. "Ja, dude, hättest Du mal mitgedacht!" – jetzt kriegt hier gleich jemand einen nassen Arsch – und ich bin es nicht! Gemeinsam schauen wir in die schwarze Regenwand vor uns. "Zieht vielleicht vorbei", sagt Emilio, und ich lache laut. Emilio, ein selbstbewusster Spanier mit dichtem Haar, Vollbart und den Nackenmuskeln eines Wettkampfringers, überrascht mich immer wieder mit seinem grenzenlosen Optimismus. Dabei ist nicht mal mehr der Pico Comodoto zu sehen, der vor Minuten seinen 2300 Meter hohen Gipfel noch vor uns in den Himmel streckte. Jetzt ist alles dunkel wie ein Bluterguss. Und schon treffen uns die ersten Böen. Windstöße so stark, dass wir uns mit aller Kraft dagegenstemmen müssen, um nicht vom Berggrat zu rutschen und den Steilhang hinunterzukugeln. Zumindest vermute ich da einen Steilhang zu unserer Linken, sehen kann ich nichts, denn auch hier wabert Nebel. Mir soll’s recht sein, er kaschiert die Tiefe, denn – ich trau’s mich kaum zu sagen – ganz frei von Höhenangst bin ich nicht. Vor uns in dieser Nebelsuppe, am anderen Ende des Grats, liegt der Start des 1000-Höhenmeter-Downhills, für den wir die ganze Plackerei hier auf uns genommen haben. Regen und Nebel mögen Emilio überrascht haben, doch wer plant schon mit Sturmregen in Spanien – und das Mitte Juni? Ich dachte da eher an Staub, Hitze, Schweiß und frostige Bierflaschen, von denen wir in steilen Uphills fantasieren würden. Doch wieder was gelernt: Nicht einmal auf Spanien ist Verlass, auf den Sommer sowieso nicht – und die Berge haben ihre ganz eigenen Gesetze. Jetzt können wir entweder den Schwanz einziehen oder dem Leitsatz folgen: Was dich nicht tötet, härtet ab. Na ja, ich glaube, wir liegen irgendwo dazwischen. Also schieben wir die Bikes weiter, stemmen uns gegen den Sturmwind und hoffen, dass uns unser Shuttle-Fahrer dort unten wiederfinden wird.

Lehm satt Staub, Regen statt Schweiß.

Regen, der in Strömen vom Helm rinnt – nur das Bier als Belohnung funktioniert bisher nach Plan. Wir trinken Tronzadora, zu Deutsch: Kettensägen-Bier, denn mit jeder verkauften Flasche spendet die örtliche Brauerei den Jungs, die hier all diese wunderbaren Trails in die Berge graben, einen kleinen Geldbetrag.

  Und immer wieder Regen und Sturm. Rafa duckt sich auf dem Weg ins Cinca-Tal in einen alten Felstunnel, den vermutlich schon die Katharer-Ritter im Mittelalter als Schutz nutzten.Foto: Dan Milner Und immer wieder Regen und Sturm. Rafa duckt sich auf dem Weg ins Cinca-Tal in einen alten Felstunnel, den vermutlich schon die Katharer-Ritter im Mittelalter als Schutz nutzten.

Ich hatte mich mit Emilio Gracia und Rafa Molina aus Madrid zusammengetan und unserem Guide Pablo Irigoyan Claver. Zusammen wollen wir die Pyrenäen dort erkunden, wo die viele Menschen nach dem Spanischen Bürgerkrieg ihre Dörfer verließen. Ausgangspunkt unseres Abenteuers ist Ainsa, ein mittelalterliches Dorf, das 2015 ins Visier der Mountainbiker geriet, als hier die Enduro World Series einen Stopp einlegte. Über Nacht landete dieses Bergnest plötzlich auf der To-do-Liste vieler Biker, angelockt durch unglaubliche 1200 Kilometer (!) Trails. Jetzt pilgern 20000 Biker jährlich nach Ainsa, wo es vor Jahren vielleicht nur ein paar Hundert waren. Ironie des Schicksals: Über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte war die Natur um Ainsa so rau, dass die Menschen flohen – und jetzt lockt genau diese Wildheit Menschen an – Mountainbiker, die für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen. Und da sitzen wir auf den tausendjährigen Steinmauern Ainsas, die in einigen Monaten erneut als Start der EWS fungieren sollen. Doch noch liegt Ainsa still und verschlafen an den Hängen der Pyrenäen – und genau so wollten wir das haben.

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Hier oben am Pass trommelt noch immer Regen auf unsere Membranjacken. Egal. Wir kippen die Bikes in die Fall-Linie – erst vorsichtig, dann immer entschlossener – und lassen uns von der Schwerkraft ins Nebelgewaber unter uns ziehen. Nach fünf Minuten durchstoßen wir das Wolkenband und zischen über einen handtuchbreiten Pfad, der in weiten Lasso-Schleifen durch eine Bergwiese schneidet. Hier ist die Sicht besser, und das ist gut so, denn die hakeligen Kehren vor uns erfordern alle Aufmerksamkeit. Ich liebe Switchbacks, denn jede einzelne fordert zum Duell heraus. Gelingt es dir, sie elegant zu meistern, hast du gewonnen. Bleibst du hängen oder murkst dich grobmotorisch um die Ecke – ist sie der lachende Sieger, und das Freeride-Ego kriegt einen Arschtritt verpasst. Wir rutschen, schlittern, schlingern, während unsere Augen die Erde vor den Reifen abtasten wie ein Minensucher, um Gefahren sofort zu erkennen. Die Höhenmeter purzeln, und irgendwann spült uns der Trail unvermittelt in eine Kopfsteinpflastergasse, die im Cinca-Tal genau an einem Café endet. Punktlandung! Wir sind nass und dreckig, doch wir grinsen. Ich bin mir zwar immer noch nicht sicher, ob ich mir das von Spanien erwartet hatte, doch ich will mich nicht beklagen!

Wenn ein Transfer so aussieht, wissen wir, dass die EWS-Stages weit hinter uns liegen. Rafa tut, was sein muss beim steilen Aufstieg zum Pico Comodoto (2631 m).
Foto: Dan Milner

Anscheinend ist sich Ainsa ebenfalls nicht sicher, was es erwartet, scheint sich aber auch nicht zu beklagen. Es weiß wohl nicht genau, wie es mit dem plötzlichen Ruhm umgehen soll – etwa wie ein pickelgesichtiger Boyband-Sänger mit einer Meute TV-Reportern. So gibt es in Ainsa nicht einmal einen Bike-Verleih, dafür bieten die ersten Guiding-Firmen ihre Dienste an, darunter Pablo von Altituderides.com. Auch gibt es Trailbuilder, die unter dem Namen Zona Zero die Trails der Umgebung pflegen, vom Cross-Country-Loop bis zur harten Downhill-Strecke. Doch berühmt geworden ist Ainsa mit seinen felsdurchsetzten Trails, die wie Achterbahnen durch den Bergwald schaukeln und selbst den hartgesottenen Enduro-Profis der EWS Respekt einflößen. Shuttle-Touren sind sehr beliebt, doch ich bat Pablo dennoch, uns eine richtige Abenteuer-Tour zusammenzustellen. Sie sollte an den gletscherbedeckten Flanken des Pico Anetos – des höchsten Pyrenäen-Gipfels (3404 m) – beginnen und weit im Südosten bei Huesca enden; dort, wo die Landschaft mit seinen Fels­türmen an Arizona erinnert. Wollten wir alles aus eigener Kraft erstrampeln, würde diese Tour acht oder neun Tage dauern. Wir hatten aber nur vier, Zeit genug, um einen guten Eindruck der Aragon-Region zu kriegen, wie ich fand, einige Überraschungen mit eingeschlossen.

Der Regen zwingt mich, in meine wasserdichte Shorts zu schlüpfen, während er auf dem nahen Comodoto-Gipfel schon als Schnee vom Himmel flockt. Am nächsten Morgen sind alle Berge über 2300 Metern weiß bezuckert – damit ist unser Plan, ganz weit oben in den schwarzen Geröllhängen der Sierra Negra zu campen, natürlich gestorben. Stattdessen flüchten wir in eine Hütte aus Granitblöcken und beratschlagen uns. Selbst Alvaro Yaque, ein fröhlich-verlotterter Kerl mit heiserer Stimme und schlechten Zähnen, reibt sich das Kinn und starrt ins Schneegestöber da oben. Er ist unser Maultierführer. Seine Maultiere stehen stoisch neben ihm, bereit unsere Camping-Ausrüstung und die Bikes dahin zu buckeln, wohin sie ihr Boss haben will.

Dann wirft Alvaro seine selbst gedrehte Zigarette weg und sagt einfach nur: "Let’s go!" Recht hat der Mann – endlich hat das Zaudern ein Ende. Es fühlt sich gut und richtig an, wieder unterwegs zu sein. Mich verblüffen die Maultiere, mit welcher Leichtigkeit sie ihren Weg durch die Steinbrocken finden und schnell an Höhe gewinnen mit ihren dünnen Beinchen, während ich kaum Schritt halten kann. Auch Alvaro tänzelt über Steine und Felskanten – trotz seiner klobigen Gummistiefel – immer eine Zigarette zwischen den kaputten Zähnen. Alvaro ist ein Mann der Berge, das wird mir schon auf den ersten Metern klar. Wir klettern 600 Höhenmeter nach oben, wo Alvaro dicht unter dem Gipfel seine Maultiere von der eigenartigen Last befreit. Er stößt einen Pfiff aus, die Maultiere kreiseln herum und staksen den Berg­hang hinunter. Alvaro folgt ihnen und zündet sich im Gehen schon die nächste Zigarette an.

  Zelten neben verlassenem Gemäuer. Hier oben pfeift nur der Wind, und es rascheln die Mäuse im Gras. Keine Menschenseele weit und breit.Foto: Dan Milner Zelten neben verlassenem Gemäuer. Hier oben pfeift nur der Wind, und es rascheln die Mäuse im Gras. Keine Menschenseele weit und breit.

Jetzt sind wir alleine. Um uns Stille.

Nur das ferne Klappern der Steine unter den Maultierhufen ist zu hören. Die Wolken reißen auf, Sonnenstrahlen blitzen, Schneefelder blenden. "Hier geht’s runter!", sagt Pablo und deutet ins Nirgendwo. Nach einer halben Stunde freeriden durch schneeverkrustete Steinfelder erreichen wir schwarzen, feinen Schotter und surfen darauf in die Tiefe, bis uns grüner Eichenwald verschluckt. Vom Schnee bis zum Talboden misst die Abfahrt 1300 Höhenmeter und endet zwischen den Ski- und Klettergeschäften von Benasque. Was für ein Ritt!

Zur nächsten Etappe unseres Abenteuers starten wir im Mini-Bus und drehen die AC auf Maximum. Schnee und Regen der letzten Etappe scheinen jetzt wie aus einer anderen Welt, und dennoch werden uns die Launen des Wetters auch weiterhin begleiten.

"Heute habe ich was ganz Besonderes für Euch!", sagt Pablo, als wäre die Wahnsinnsabfahrt von gestern nur so lirumlarum gewesen. Pablo ist Kajak-Fahrer und liebt felsverblocktes Wildwasser genauso wie die technischen Trails rund um Ainsa. Meine Erfahrung mit Kajak-Fahrern sagt mir, dass "was Besonderes" so viel heißt wie: Du wirst vermutlich dabei draufgehen. Doch Pablo scheint meinen skeptischen Blick entschlüsselt zu haben, und wir verbringen den Nachmittag mit Freeriden im Dauergrins-Modus. Wir starten im Bergdörfchen Matidero, und sehr schnell testet der Trail den Testosteron-Gehalt unseres Bluts. Felskanten, Steilabfahrten, Spitzkehren am Abhang, Steinlabyrinthe – permanent ist Mut gefordert. Schaffe ich es durch diese Stolperfallen, jubel’ ich vor Glück und bekomme mehrmals ein "Yeah dude!" von meinem Verfolger zu hören, der meine elegante Linienwahl beobachtet hat. Das ist Balsam für mein Biker-Ego und die schönste Belohnung im Freeriden, oder? Ich finde schon.

Zwei Tage winden wir uns durch den Nationalpark Sierra y Cañones del Guara. Ja, viva España – das ist das Spanien, das ich mir erhofft hatte: blauer Himmel und eine stechende Sonne!

Als Pablo uns unmittelbar fragt: "Wie gefällt Euch Guara-Freeriding?", will ich ihn am liebsten umarmen. Ich höre den Stolz in seiner Stimme, denn Pablos Großvater stammt aus einem der verlassenen Dörfern, zwischen dessen Mauern wir die letzte Nacht verbracht haben. "Hier fahren nur wenige", fügt er hinzu, als ob er sich für den rauen, ungehobelten Charakter der Strecke entschuldigen wollte. Denn mal ehrlich: Es war auch ein Kampf mit der eigenen Entschlossenheit: Wage ich es, oder lieber nicht?

Und wieder campieren wir zwischen alten Mauern und hohem, safrangelbem Gras. Ein Fuchs schleicht heran und schaut so sehnsüchtig, dass ihn Pablo füttert. Beim Essen diskutieren wir, wie diese Supertrails neues Leben in die alten Dörfer bringen könnten. Wir schauen uns um – es riecht nach Kräutern, ein warmer Wind fächert vom Tal hoch, Stille klingt in den Ohren, und weit über uns schieben die Berge ihr Raubtiergebiss in den Abendhimmel – so viel wilde Natur, da können die Alpen nur davon träumen! "Der Trail runter nach Huesca ...", sagt Pablo und wir fallen ihm ins Wort, "... wird wieder was ganz Besonderes!" "Richtig, amigos!", bestätigt er und sollte mal wieder Recht behalten.

Zwölf Stunden später rollen wir über 100 und eine Felskante auf einem Trail namens Salto del Roldàn, während über uns Geier kreisen und darauf lauern, dass wir die falsche Linie wählen oder die Balance verlieren. Wie der Fuchs wissen die Geier: Du musst deine Chancen nutzen. Das ist unumstößlich in den rauen Pyrenäen – ein Prinzip, das Ainsa nur allzu gut kennt.

  Bergdorf Ainsa, PyrenäenFoto: FREERIDE Magazin Bergdorf Ainsa, Pyrenäen

INFOS über AINSA

Mit seinen Supertrails und der wilden Berglandschaft gehört Ainsa auf die Bucket-Liste jedes Free­riders. Ainsa liegt in den Pyrenäen. Zirka drei Autostunden von Barcelona entfernt. Flüge nach Barcelona gibt es bereits ab 40 €. Pauschal­angebote mit Guiding gibt es z. B. die Woche ab 1000 €.

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