Anden-Trail100 km zwischen Himmel und Hölle

Dan Milner

 · 14.05.2018

Anden-Trail: 100 km zwischen Himmel und HölleFoto: Dan Milner
Anden-Trail: 100 km zwischen Himmel und Hölle
Vulkane brodeln, Pumas schleichen ums Zelt, das Wetter zickt, der Trail löst sich in Nichts auf. Egal! Wir haben eine Mission: die Erstbefahrung eines 100-Kilometer-Trails in den chilenischen Anden.
Wenn diese Burschen ihr Bike schultern, ist Fahren tatsächlich keine Option mehr: René Wildhaber (links) und Matt Hunter. René ("Racing is Life!") mit Klickpedalen, Matt ("Freeride forever!") auf Flats.Foto: Dan MilnerWenn diese Burschen ihr Bike schultern, ist Fahren tatsächlich keine Option mehr: René Wildhaber (links) und Matt Hunter. René ("Racing is Life!") mit Klickpedalen, Matt ("Freeride forever!") auf Flats.

Ich glaub, das ist Puma-Kacke", sagt Christian Levy, unser chilenischer Guide, als wir ihm den Haufen vor unserem Zelt zeigen. Aber es kommt noch schlimmer: "Davon gibt’s in diesem Wald jede Menge." Damit meint Christian leider die Pumas, nicht ihre Kacke – obwohl das eine natürlich das andere bedingt. Ich finde wilde Tiere prinzipiell toll, aber wie soll ich jetzt noch nachts zum Pinkeln vors Zelt gehen? Die Vorstellung, von einer 100-Kilo-Katze zerfleischt zu werden, bekommt sofort einen Spitzenplatz in der Liste meiner Chile-Albträume – und zwar noch knapp vor "lebendig in einer Flut flüssiger Lava verbrennen". Dazu muss man wissen: Der letzte Vulkanausbruch in dieser Gegend ist gerade mal zwei Jahre her... So langsam beginne ich mich zu fragen, in was für eine Hölle wir hier eigentlich geraten sind?

Unsere Tour ist halb Abenteuertrip, halb Rekordjagd: ein 100 Kilometer langer Trail, den bisher noch niemand mit dem Mountainbike befahren hat – zumindest nicht von einem Ende zum anderen. Er beginnt an den Lavafeldern des Lanin-Vulkans an der chilenisch-argentinischen Grenze und endet drei Tagesetappen später an den Ausläufern des überaus aktiv vor sich hin qualmenden Villarrica-Vulkans nahe der Stadt Pucon. Dazwischen streift er den Quetrupillan-Vulkan, hüpft über buntgefärbte Lavafelder und mäandert durch dichte Bambus- und Chiletannenwälder. Die Strecke ist gut markiert und ihre 100 Kilometer sind alles andere als eine extreme Herausforderung, aber die Tatsache, dass sie unter Mountainbikern bisher völlig unbekannt ist, erhöht den Reiz beträchtlich – wenigstens für mich. Und damit ich im Ernstfall nicht alleine in einer glühenden Lavahölle schmo­ren muss, habe ich ein paar Freunde dabei: die Freeride-Profis Matt Hunter und René Wildhaber, den chilenischen Cross­country-Champ Ernesto Aránguiz, den Filmer Matty Miles und schließlich Euan Wilson vom Reiseveranstalter H+I Adventures.

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Wenn diese Burschen ihr Bike schultern, ist Fahren tatsächlich keine Option mehr: René Wildhaber (links) und Matt Hunter. René ("Racing is Life!") mit Klickpedalen, Matt ("Freeride forever!") auf Flats.
Foto: Dan Milner

Vor uns liegt ein Trail, der so abgelegen und wild ist, dass es zwischen Morgen und Abend nur zwei Alternativen gibt: bis zum Ende durchhalten oder umkehren und zurück zum Ausgangspunkt. Nur zwei Mal kreuzt unterwegs eine Forststraße den Trail, das teilt unseren Trip in drei lange Etappen. Dort wollen wir Christian treffen, der mit dem Jeep Zelte und Verpflegung herankarrt. Die gesamte Strecke ist vom Mobilfunknetz abgeschnitten. Für wirkliche Notfälle (wie angreifende Pumas oder sprühende Lava) haben wir ein UKW-Funkgerät dabei. Gleich der erste Tag scheint sich in die Länge zu ziehen, denn es hat zu regnen begonnen ...

Der Wind bläst klatschnasse Regenvorhänge über die weite Fläche aus schwarzem Vul­kansand, die vor uns liegt. Zu unserer Linken ragt der 3747 Meter hohe Lanin auf. Sein schneebedeckter Gipfel hat sich jetzt komplett in Wolken gehüllt. Irgendwo auf halber Höhe, im nebligen Nichts liegt der höchste Punkt der heutigen 30-Kilometer-Tagesetappe. Nass geschwitzt von den 500 Höhenmetern, die schon hinter uns liegen, hüllen wir uns rasch in unsere Jacken, treten in die Pedale und machen uns auf in diese nasskalte Wüste. Limettengrünes Moos heftet sich hartnäckig an schroffes, schwarzes Gestein: die ersten Versuche der Natur, diese extreme Landschaft zurückzuerobern. Wir fahren, was fahrbar ist, und schultern die Bikes, wenn wir durch ein Dutzend bizarre Steingärten klettern. Kalt und nass kleben die Shorts an den Schenkeln, während die Reifen und unsere Zähne fast gleich laut knirschen – Sand und Steinchen setzen sich überall fest.

Bisher kann uns all das nichts anhaben: Die Euphorie des Aufbruchs ("Yeehaa, endlich unterwegs!") trägt uns fast drei Stunden lang durch alle Widrigkeiten. Doch nach der Pause am höchsten Punkt der Etappe spüren wir umso deutlicher, wie kalt und ungemütlich es schon die ganze Zeit ist. Während der langen, flowigen Abfahrt steht uns kaum der Sinn danach, den geheimnisvollen, von urigen Flechten durch­wobenen Wald zu bewundern. Viel eher gruselt es uns davor, was uns am Ende dieses Downhills erwartet: kalte, nasse Zelte. Aber nichts da: weg mit den Fröstelgedanken! Statt dessen genießen wir den Trail, schlängeln uns zwischen moosigen Bäumen hindurch, schlittern in lehmige Turns und breschen durch die Bäche, weil unsere Schuhe ja sowieso schon durchweicht sind. Als wir schließlich schlammverspritzt, aber glücklich das Camp erreichen, erwartet uns eine heiße Suppe. José, der Koch, weiß, was müde Trail-Cowboys brauchen!

Gegen Mitternacht wird das hypnotische Regen­tropfenklopfen auf dem Zeltdach endlich schwächer. Im ersten Morgenlicht zerreißen die Nebelschwaden und geben den Blick frei auf den Lanin, der sich mit seinen von Neuschnee geweißelten Flanken über uns auftürmt. Wir wärmen uns an unseren Kaffeetassen und warten darauf, dass die ersten Sonnenstrahlen unsere Vorfreude auf die vor uns liegende 50-Kilo­meter-Mammut-Etappe entfachen. Andächtig bestaunen wir die perfekte Kegelform des Bergs: Genau so würde ein Kind einen Vulkan malen. In den alten Chile-Tannen lärmen die Sittiche, als wir schließlich in einen Tunnel aus dichtem Bambus eintauchen. Hier beginnt der erste von etlichen langen Anstiegen heute – für die wir aber mit Dutzenden perfekter Downhills belohnt werden.

Abends im Camp bei einer heißen Tasse Tee ist die Welt immer heil, egal wie anstrengend der Tag war.Foto: Dan MilnerAbends im Camp bei einer heißen Tasse Tee ist die Welt immer heil, egal wie anstrengend der Tag war.

Birken säumen wenig später den schmalen Trail. Ihre buschigen Äste schnappen nach unseren Rädern, als wollten sie uns jeglichen Spaß am Radeln rauben. Wir pressen weiter, grollen und fluchen. Weit über uns kreisen Kondore. Sie lachen sich vermutlich kaputt: Ein bisschen Thermik und sie schaffen unsere Tages­etappe mit drei Schlägen ihrer wuchtigen Schwingen. Hier unten attackieren uns andere Flugkünstler: Bremsen beißen in unsere Waden und scheinen zu wissen, dass wir die Hände am Lenker haben. Endlich lassen wir den Wald hinter uns und gelangen auf einen lang gezogenen Grat aus rotem Lavagestein. Von hier schweift der Blick über weites Grasland. Eine Traverse um den Quetrupillan-Vulkan beginnt auf Singletrail durch schwarze Asche. Auch hier sind die Anstiege brutal steil – und die hart verdienten Abfahrten geraten umso sorgloser und schneller.

Wild durcheinander gewürfelte dunkle Felsen und Bänder aus vielfarbigem Sand erstrecken sich, soweit wir blicken können. Mir wird mit einem mal klar, dass wir buchstäblich mitten im Nirgendwo sind. In den gesamten drei Tagen begegnen wir nur einem einzigen Menschen, einem einsamen Wanderer, der genauso verwundert scheint, uns zu sehen, wie umgekehrt. Stunde um Stunde steuern wir unsere Bikes durch diese Marslandschaft. Mit jedem neuen Anstieg müssen wir tiefer in die Taschen unserer Energiereserven greifen. Dann endlich spuckt uns der letzte Downhill des Tages 10 Meter vor den Zelten aus. Und keine 10 Minuten später wird es Nacht. Christian drückt jedem ein Bier in die Hand und gesteht, dass er schon anfing sich Sorgen um uns zu machen.

Jetzt, wo wir wohlbehalten auf dem staubigen Boden zwischen den Zelten hocken, lachen wir über die Strapazen des Tages. Matt Hunter spült mit Bier den Sand aus dem Mund und schluckt das Gemisch genussvoll runter. Er listet die Strecke schon unter die besten Backcountry-Trails, die er je gefahren ist – und das will was heißen: Der Bursche war schon überall! Ich dagegen werde nie vergessen, wie komplett ich daneben lag, als ich nach den ersten 400 Höhenmetern behauptet hatte: "Wir haben’s gleich!"

Am Ende waren es 2400 Meter Uphill – und von 13 Stunden Tageslicht haben wir volle 11 mit Anstiegen zugebracht. Aber was soll’s: Fehleinschätzungen sind nun mal der Preis, den man für Pioniertaten zahlt. So sehr man sich auch mit Geo-Daten aus dem Internet wappnet: Auf Erstbefahrungen gibt es immer eine Menge Variablen. Morgen erwarten uns nochmal 35 Kilo­meter – und ich habe keine Ahnung, wie viele davon bergauf oder bergab gehen. Darauf am besten noch ein Bier!

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind meine Augen vom Staub der gestrigen Abfahrt regelrecht zugeklebt. Vielleicht hätte ich am Abend nicht nur meinen Hintern, sondern auch mein Gesicht in den eiskalten Fluss tunken sollen, der dicht am Camp entlangfließt. Aber auch sonst sind am dritten und letzten Tag die Auswirkungen unserer Anstrengungen nicht mehr zu übersehen: aufgeriebene Füße, sonnenverbrannte Haut, stinkende Klamotten, geflickte Reifen. Trotzdem würde wohl niemand diese Erfahrungen missen wollen. Wir hieven uns erneut auf unsere Bikes und starten zur letzten Etappe. "Wir sehen uns auf der anderen Seite des Vulkans wieder", sagt Christian zum Abschied. Auch so ein Satz, den man im Leben sicher nicht oft zu hören bekommt. Zwei Stunden später haben wir uns total verirrt.

Mehr als solche Klumpen würden von uns und den Bikes vermutlich nicht übrig bleiben, spuckte der Villarrica plötzlich Feuer. Der letzte Ausbruch des Vulkans liegt erst zwei Jahre zurück.Foto: Dan MilnerMehr als solche Klumpen würden von uns und den Bikes vermutlich nicht übrig bleiben, spuckte der Villarrica plötzlich Feuer. Der letzte Ausbruch des Vulkans liegt erst zwei Jahre zurück.

Der letzte Ausbruch des Villarrica hat den Trail 2015 so gründlich zugedeckt, dass wir jede Spur von ihm verloren haben. Jetzt sitzen wir ratlos auf einem Grat und schauen über weite Felder roter und schwarzer Asche. Dann suchen wir die Gegend abwechselnd zu Fuß ab, mal in westlicher Richtung, mal nach Süden. Unsere Sohlen knirschen laut im Vulkansand. Als würde jemand besonders geräuschvoll Cornflakes kauen. Irgendwann entdecken wir den Trail in weiter Entfernung: Er schlängelt sich kaum sichtbar zwischen zwei zerklüfteten Lava­bändern entlang. Nichts wie los! In einem wilden Freeride-Ritt mitten durchs Gelände wollen wir zu ihm aufschließen. Ich beobachte Matt Hunter und René Wildhaber, die den losen Hang mühelos hinuntergleiten. 30 Sekunden später liege ich auf der Fresse. "Lös die Vorderbremse!" Ich verfluche mich selbst. An dieser gottverlassenen Gegend will ich nicht ausprobieren müssen, ob das Funkgerät tatsächlich funktioniert.

Vom Krater des Vulkans steigt eine Rauchfahne auf. Das schwarze Gestein verströmt die Hitze der chilenischen Sommersonne. Ein Backofen! Schwer zu glauben, dass wir vor zwei Tagen unser Frühstück aus frostbedeckten Schüsseln gelöffelt haben. Wir nutzen die erste Gelegenheit, unsere Camelbaks an einem Bach aufzufüllen. Mit den Augen folgen wir seinem Lauf bis hinauf zum Eis, aus dem er entspringt. Der Trail führt uns um die breiten Schultern des Vulkans herum. Mal winden wir uns zwischen glasig glänzenden Obsidian-Säulen hindurch, dann wetzen wir unsere Reifen auf natürlichen Pumptracks ab. Zahllose kleine Schluchten schneiden tiefe Risse in die Flanke des Vulkans, doch die anfängliche Verlockung in sie hineinzudroppen hält sich in Grenzen, wenn man erst einmal begriffen hat, dass man auf der anderen Seite mühsam wieder hinauskraxeln muss.

Das Ende der Tour rückt unaufhaltsam näher. Mal sehen wir unser Ziel schon in greifbarer Nähe, dann verschwindet es wieder hinter dem Bergrücken. Noch bleiben uns einige Kilometer unbekanntes Land zu erobern. Aber das Licht schwindet schnell. Als wir uns schließlich staubige Highfives geben und dabei zwischen den sandigen Zähnen grinsen, verschwindet die Sonne gerade hinter den Bergrücken. Ich versuche, den Moment in mich aufzusaugen. Aber es funktioniert nicht: Ich bin einfach zu erschöpft – und verdammt froh, dass weder die Pumas noch glühende Lava aus dem himmlischen Trip eine Hölle gemacht haben.


INFO

Die beschriebene Lanin-Villarrica-Traverse wird (bislang) nicht als geführte Tour angeboten. Epische Singletrail-Rides in der selben Vulkanlandschaft dagegen schon, ohne Camping, aber mit dem selben Support-Team von H + I Adventures. mountainbikeworldwide.com

Lanin-Villarrica-TraverseFoto: Dan MilnerLanin-Villarrica-TraverseDiesen Artikel finden Sie in FREERIDE 4/2017 - das Heft können Sie hier bestellen > FREERIDE IOS App (iPad) FREERIDE Android AppFoto: Nathan HughesDiesen Artikel finden Sie in FREERIDE 4/2017 - das Heft können Sie hier bestellen > FREERIDE IOS App (iPad) FREERIDE Android App

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